Realitätscheck für Novel Foods

Hohe Inflation, steigende Zinsen und globale Unsicherheit verändern das KonsumentInnenverhalten und damit auch die Lage für Agrar- und Lebensmittelindustrie. Diese Änderungen werden die Innovationen in der Branche wieder näher an die Realität heranführen, sagt Cyrille Filott, Global Strategist für Lebensmittel, Verpackung und Logistik der niederländischen Rabobank, in einem Interview mit dem GDI.
2 Mai, 2023 durch
Realitätscheck für Novel Foods
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

GDI: Herr Filott, wenn wir das Wort «Geopolitik» hören, denken wir in der Regel an nationale Interessen und globale Verschiebungen, an Waffen, an Armeen, an Krieg – wir denken nicht ans Essen. Aber genau darüber werden Sie auf der International Food Innovation Conference des GDI sprechen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Lebensmitteln und Geopolitik?

Cyrille Filott: Es gibt viele solcher Zusammenhänge. Einige davon sind sehr direkt – denken Sie nur an die Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf die Preise und die Verfügbarkeit von Sonnenblumenöl und Weizen. Aber auch die indirekten Zusammenhänge sind nicht zu unterschätzen. Wenn geopolitische Unruhen beispielsweise zu höheren Energiepreisen führen, wirkt sich das auf die Preise für Düngemittel oder auf die Kosten für die Verarbeitung von Lebensmitteln aus. Die Auswirkungen sind also in der gesamten Wertschöpfungskette zu spüren. Geopolitische Herausforderungen standen bisher nicht ganz oben auf der Agenda der Lebensmittelindustrie, auch nicht bei Start-ups in diesem Bereich. Das hat sich nun geändert, und der aktuelle Trend zur Re-Globalisierung (einer Verschiebung der Allianzen) wird dafür sorgen, dass man dies weiterhin im Auge behalten sollte.

Steigende Preise für lebensnotwendige Nahrungsmittel können zu Unruhen, Rebellionen oder Bürgerkrieg führen. Aber davon sind wir in Europa weit entfernt, oder?

Ich glaube schon, ja. Aber es kommt darauf an, wie Sie Unruhen definieren; viele der Streiks in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern derzeit stehen im Zusammenhang mit den Lebenshaltungskosten. Die Energie- und Lebensmittelpreise sind aufgrund des Konflikts in der Ukraine gestiegen, und die Arbeitnehmer ziehen nun mit Lohnerhöhungen nach.

Aufgrund der steigenden Lebensmittelpreise ändert sich auch das Verbraucherverhalten. Führt dies zu einer «neuen Normalität» des Konsums, oder handelt es sich eher um eine vorübergehende Veränderung?

Wir stellen gerade eine ganze Reihe von Veränderungen im Verbraucherverhalten fest. Sie hängen grösstenteils, aber nicht ausschliesslich, mit den höheren Preisen zusammen. Einige der vermeintlich langfristigen Trends, die wir vor Covid und Ukraine beobachtet haben, scheinen nun zum Stillstand zu kommen.

Zum Beispiel?

Das Wachstum der Lieferdienste oder die steigende Nachfrage nach pflanzlichen Alternativen zu Milch- und Fleischprodukten. Die höheren Lebensmittelpreise veranlassen auch die Verbraucher zum Umdenken: Downtrading ist auf einigen europäischen Märkten ein grosses Thema. Höherpreisige Produkte wie Markenprodukte oder Bio-Lebensmittel scheinen ein wenig in Ungnade zu fallen.

Was werden wir im Jahr 2030 essen? Novel Food, Insektenproteine, veganes Fleisch? Oder immer noch Schweizer Brot, Schweizer Käse, Schweizer Schokolade?

Das Jahr 2030 liegt noch in weiter Ferne. Neue Trends und neue Produkte werden auftauchen, und diese sind schwer vorherzusagen. Ich glaube, die aktuellen Marktbedingungen bieten eine Art Realitätscheck für Novel Foods. Abgesehen davon, dass sich die Vorlieben der Verbraucher ändern, sind auch die hohen Zinssätze nicht gerade hilfreich für die Finanzierung von Innovationen. Die fundamentalen Gründe für eine Anpassung der Lebensmittel- und Agrarindustrie aufgrund von Themen wie Umweltbelastung oder Klimaschutz haben sich nicht geändert. Was sich aber geändert hat, sind die äusseren Rahmenbedingungen. 
Brot, Käse und Schokolade werden also auf jeden Fall auf dem Speiseplan bleiben. Ich gehe allerdings davon aus, dass sich nicht so sehr die Produkte auf den Tellern ändern, als vielmehr die Art, wie sie produziert werden – und zwar in Richtung Nachhaltigkeit.

Grundnahrungsmittel sind für jedes Land von lebenswichtiger Bedeutung, und die Lebensmittelindustrie wiederum ist von entscheidender Bedeutung für die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Kann daraus die Gefahr einer Verstaatlichung der Lebensmittelindustrie erwachsen?

Das ist eine interessante Frage. Die Lebensmittelsicherheit hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Grossbritannien zum Beispiel ist kein Selbstversorger. Durch den Brexit (schon wieder Geopolitik!) sind die Grenzkontrollen schwieriger geworden, was die Einfuhr von Lebensmitteln erschwert. Also wird Grossbritannien mehr Wert darauf legen, seine eigenen Lebensmittel anzubauen. Insgesamt ist Europa nicht schlecht aufgestellt, und ich bin sicher, dass auch weiterhin Lebensmittel gehandelt werden. Zu einer Verstaatlichung der Lebensmittelindustrie könnte es nur kommen, wenn wir in ernsthafte geopolitische Konflikte geraten. Hoffen wir, dass das nicht passiert.


Cyrille Fillot spricht am 21. Juni auf der International Food Innovation Conference am GDI über «Survive and Thrive: Wege durch Geopolitik und Wirtschaft. Wie sich aktuelle Entwicklungen auf die Lebensmittelindustrie und das Verbraucherverhalten auswirken und wie Unternehmen darauf reagieren können». Jetzt anmelden!

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