Medienmitteilung, 27. Dezember 2010
GDI Gottlieb Duttweiler Institute, Rüschlikon/ZH:
Trendradar 3.10 – Die Rückkehr der Macht: «Trendradar» und -konferenz

Cyberwar und Territorialkonflikte, Geschlechterkampf und der Streit um Steuergerechtigkeit: Vor kurzem noch löste Geld die Probleme. Doch wo es ausgeht, beginnen Verteilkämpfe, die Machtfrage kehrt zurück. Der «Trendradar» 3.10 des GDI Gottlieb Duttweiler Institute lotet die Kampfzonen aus, und an der 7th European Consumer Trend Conference vom 16. März 2011 referieren Daniel Domscheit-Berg, Parag Khanna, Peter Sunde und weitere hochkarätige Redner über das Thema.

Nichts weniger als «das Ende der Geschichte» versprach uns Francis Fukuyama 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer. Wir glaubten ihm nur zu gerne, in der Hoffnung auf eine demokratischere und gerechtere Zukunft ohne gewaltsame Machtkämpfe.

Wie falsch das war, zeigt gerade der Konflikt um Wikileaks: Die USA lassen Zugänge, Konten und Server sperren, setzen Provider, Banken und Staaten unter Druck, und Anführer Julian Assange wird verhaftet. «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet», befand einst der politische Philosoph Carl Schmitt. Umgekehrt hat aber auch Macht, wer den Ausnahmezustand herbeiführen kann: Eine weltweit schnell wachsende Wikileaks-Anhängerschaft spiegelt Daten, verbreitet eine «Informationsbombe» und startet Hackerangriffe auf Finanzinstitute. Damit beginnt eine neue Ära der Kriegsführung, in der es um die Kontrolle der Kommunikationsmittel geht.

Doch Wikileaks ist nur einer von vielen Belegen dafür, dass Machtfragen vermehrt zum Thema werden. Allenthalben finden Kämpfe mit immer härteren Bandagen statt, zwischen Politikern, Unternehmen, Nationen, Volkswirtschaften. Das ist keineswegs erstaunlich, denn wir leben im «Age of less», einer Zeit knapper werdender Ressourcen. Und was rar ist, wird umkämpft. Die Macht verschiebt sich, wird neu verteilt, alle wollen mehr davon, und keiner gibt sie freiwillig ab.

Besonders deutlich wird das beim Geld, heute wohl das Machtinstrument überhaupt. Weltweit wird die Einkommens- und Vermögensverteilung seit den 1970er Jahren immer ungleicher. (Die Schweiz liegt übrigens an drittletzter Stelle, die zehn Prozent Reichsten besitzen 71 Prozent der Vermögen.)

Auf das Bedürfnis der Reichen nach Besitzstandwahrung trifft jetzt ein wachsender Anspruch auf Umverteilung, Initiativen zu «Steuergerechtigkeit» und Erbschaftssteuern sind Zeichen der Zeit. So lange den Armen die vergleichsweise beschränkten Mittel zum Leben noch reichen, sind wir vom aufständischen Klima feudalistischer Zeiten weit entfernt. Doch der Unmut nimmt zu, und mit ihm die Machtdiskussion. Und die Disparitäten wachsen weiter.

Die Machtfragen sind also zurück. Dieser «Trendradar» beschreibt dafür eine Reihe von Indizien und Kampfzonen – als Vorbereitung zur 7th European Consumer Trend Conference, die am 16. März 2011 unter dem Titel «Rückkehr der Macht – Wer beherrscht Marken, Medien, Menschen?» stattfinden wird.

Der Kunde war König
Wissen ist Macht, und Macht ist Wissen. Darum sitzt, wer über einen bestimmten Markt besser informiert ist, meist auch am längeren Hebel. Im Zuge der Internetrevolution wurde es für Konsumenten denn auch einfacher und billiger, sich über Produkte zu informieren, Preise zu vergleichen und alternative Angebote zu finden. Hersteller und Handel mussten Macht abgeben, die Konsumenten gewannen dazu. Doch mit den Daten, die Anbieter im Internet oder mit Loyalitätsprogrammen über ihre Kunden sammeln, kehrt sich das Blatt wieder. Die «Big Data Revolution» führt dazu, dass Unternehmen ihre Kunden immer genauer kennen und sich so einen neuen Wissensvorsprung verschaffen – und damit auch Macht (zurück-)gewinnen. Das Wissen über den Konsumenten wird wichtiger als das Wissen über das Produkt. Noch sind sich die meisten Konsumenten nicht bewusst, welchen Wert ihre Daten haben, doch das ändert sich rasch. Sie werden in Zukunft härter um die Kontrolle über die eigenen Daten kämpfen.

Kampf der Systeme
Auf dem Höhepunkt der Globalisierung schien die ökonomische Machtfrage klar entschieden: Die Wirtschaft machte sich ihre eigenen Gesetze, die Staaten hielten sich aus dem Marktgeschehen weitgehend heraus. Doch seit dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007 herrscht wieder Unübersichtlichkeit. «Systemrelevante» Unternehmen werden, «too big to fail», vom Staat gerettet. Andere reissen, «too big to bail», die Staaten gleich mit in den Insolvenz-Abgrund. Staaten verschaffen sich Firmen-Interna, um einzelne Unternehmen zu attackieren. Die Finanzmärkte wiederum attackieren einzelne Staaten, Griechenland im Frühjahr, Irland im Herbst 2010. Wer gewinnt? Harvard-Professor Dani Rodrik spricht vom «weltwirtschaftlichen Trilemma»: Zwischen unvermeidlich weitergehender wirtschaftlicher Globalisierung, Nationalstaat und politischer Demokratie könnten nur zwei Elemente, nicht aber alle drei in eine Balance gebracht werden. Drei sei zu komplex. Der Machtkampf schwelt weiter. 

Macht und Spiele
Wer spielt, will gewinnen. Schach oder Fussball sind Paradebeispiele für harmlose Machtkämpfe. Heute durchdringen spielerische Elemente unseren Alltag zunehmend, vom Boom der Game-Konsolen und -Apps bis zum Bonuspunktesammeln. Besonders deutlich zeigt sich dies bei ortsbezogenen Online-Spielen wie Foursquare, Gowalla oder Facebook Places, deren Mitspieler bestimmte Orte «erobern»: Starbucks-Filialen, Sehenswürdigkeiten, ganze Städte. Dazu melden sie sich am jeweils aktuellen Aufenthaltsort über eine App des Mobiltelephons an. Wer häufig «eincheckt», wird zum «Bürgermeister», noch fleissigere Mitspieler können ihn aber wieder entthronen. Um die Vormachtstellung an beliebten Orten entstehen so unter den Nutzern (fünf Millionen allein bei Foursquare) richtige Wettkämpfe. – Und wer verliert, hat immer noch controltv.com: Im neuen Reality-TV-Format bestimmen die Zuschauer online sechs Wochen lang rund um die Uhr, was der 25jährige Tristan Couvares tun soll. Die Fernbedienung bleibt das Machtinstrument der Machtlosen.

Im Westen nichts Neues
Der Westen verliert gerade massiv an Macht, China überholt uns in immer mehr Disziplinen. Der mächtigste Mann der Welt? Laut «Forbes» der chinesische Präsident Ju Jintao. Der beste Nachwuchs? Im Pisa-Test 2009 waren es die SchülerInnen von Shanghai. Der schnellste Computer? Steht mit einer Leistung von 2,56 Petaflops in Tianjin. Die grösste Bank der Welt? Die Industrial Bank of China (ICBC). Auch im Automarkt ist China laut «Focus» seit 2010 führend, und in der «Fortune»-500-Liste von 2010 sind insgesamt 46 chinesische Unternehmen vertreten, drei davon in den Top-Ten. China ist der weltgrösste Konsumgüterproduzent sowie die grösste Wirtschaftsmacht, seit es 2010 den Exportweltmeister Deutschland überholte. Und wenngleich die chinesische gemeinsam mit der indischen Mittelklasse heute nur zehn Prozent der globalen Konsumgüter verbraucht, so werden es bis 2050 gemäss OECD 60 Prozent sein. – In der Weltwirtschaft wird sich die Macht nicht verschieben. Sie hat es bereits getan.

Her mit den Daten!
Google, iPhone, Kundenkarten – unsere Abhängigkeit von undurchschaubaren Maschinen und Algorithmen nimmt zu. Meist sind die Interaktionsmuster vorgegeben: Bei Facebook zum Beispiel findet sich nur der «Like-Button», für Missfallen gibt es keinen Knopf. Nun merken aber immer mehr Leute, dass sie für die kostenlosen Dienste mit ihrer Unabhängigkeit bezahlen. So wächst denn auch die Kritik früher Netz-Propheten wie Douglas Rushkoff («Program or be programed») oder Jaron Lanier («You are not a gadget»). Und junge Nutzer wollen sich dieser Herrschaft entziehen, indem sie sich dem offeneren Betriebssystem Android zuwenden oder Facebook-Alternativen wie Diaspora. Der Pirate-Bay-Mitbegründer Peter Sunde tüftelt sogar an einem neuen Internet-Verzeichnisdienst, der das Netz weniger kontrollierbar machen soll. Und der amerikanische Vordenker Doc Searls propagiert als Reaktion auf Kundenbindungsprogramme mit Customer Relationship Management (CRM) ein Vendor Relationship Management (VRM): Kundenbefreiungsprogramme wie Bynamite, die dem Nutzer die Kontrolle über alle persönlichen Information geben, die Werbetreibende sehen.

Emannzipation
Der Geschlechterkampf ist in eine neue Phase getreten. Das erotische Kapital, traditionell eine Frauendomäne, gewinnt in Politik und Wirtschaft an Bedeutung. Zunehmend erlangen Frauen Führungspositionen, in der Schweiz stellen sie im Bundesrat die Mehrheit, und in den Vereinigten Staaten ist eine Präsidentin denkbar. Bildung ist zur Frauendomäne geworden, der Anteil an Universitätsabsolventinnen liegt in weiten Teilen des Westens über 50 Prozent. Das Schulsystem wird von Frauen geprägt, der Unterricht hat sich auf Primarstufe stärker den weiblichen Bedürfnissen angepasst. Knaben wird sehr viel häufiger Ritalin verschrieben als Mädchen – damit sie, so eine These, ins weibliche Schulsystem passen. Staatliche Gleichstellungsämter betreiben in erster Linie Frauenförderung, Quoten und Qualifikationen geraten in Widerspruch. Als Reaktion wehren sich immer mehr Männer; gegen den Verlust patriarchaler Privilegien, oder, je nach Blickwinkel, für echte Gleichberechtigung. Und einzelne nennen sich gar offen «Antifeministen». Streit ist unvermeidlich, etwa um Sorgerecht, Militärdienst oder Rentenalter. Eine Entschärfung der Rollenkonflikte ist nicht in Sicht.

Cyberkrieg
Computer hacken, Software cracken, Viren bauen, Server abschiessen, Netzwerke überfluten – Machtdemonstrationen im Internet waren lange die Domäne weniger Technikfreaks. Das ist vorbei. Die Online-Aktivisten rund um das Anonymous-Kollektiv zum Beispiel bieten in ihrem Kampf für Wikileaks kleine Programme zum Download an. Mit diesen sogenannten AnonOps kann jeder auch ohne Programmierkenntnisse an einem Hackerangriff teilnehmen. LOIC etwa, eine Software die Server in die Knie zwingt, wird so angepriesen: «Runterladen, Zieladresse eingeben und Zisch» – der «Attack-Button» als Pendant zum «Like-Button». Im Arsenal des Cyberkriegs sind solche Apps die Molotow-Cocktails: die Bomben des kleinen Mannes. Und es sind nicht ihre einzigen Waffen, auch Twitter oder Whistleblower-Plattformen wie Wikileaks unterstützen Nobodys und Unterdrückte auf ihren Kreuzzügen: Schandtaten werden mit Lichtgeschwindigkeit publik, Protestbewegungen formieren sich mit Pixelseile. Ein neues Powerplay.

Ohnmächtiges Geld
Die vergangenen Jahrzehnte sahen einen weltwirtschaftlichen Machtkampf um den Status der globalen Reservewährung: Der Dollar, als Währung der Supermacht USA, musste seine Spitzenstellung erst gegen den Yen und dann gegen den Euro verteidigen. Zuletzt begaben sich auch der chinesische Renminbi und die IWF-Währung Sonderziehungsrechte in Startposition. Parallel dazu verlieren alle nationalen Währungen an Bedeutung. Denn dass die vielerorts massiv gestiegenen und steigenden Staatsschulden überhaupt je zurückbezahlt werden, ist immer unwahrscheinlicher. Es sei eine Frage der Zeit, bis die bestehenden Währungs-Monokulturen durch Währungs-Ökosysteme ersetzt werden, prophezeit Douglas Rushkoff. Schon heute besteht Bitcoin als digitale Währung, die auf einem Netzwerk ohne zentrale Autorität aufbaut. Überweisungen geschehen ohne Banken oder andere Dienstleister und können von Dritten weder kontrolliert noch verhindert werden. Über kurz oder lang bedeutet der Niedergang der nationalen Währungen einen drastischen Machtverlust der Nationalstaaten.

Neuer Hunger
Klimawandel bedeutet Ernährungswandel, das belegt die Geschichte. Selbst für Länder, die den Überfluss gewohnt waren, dürfte ein globalisierter Agrarmarkt bald nicht mehr zwingend Verfügbarkeit bedeuten. Das Bevölkerungswachstum, der zunehmende Bedarf an Biosprit, immer extremere Wetterereignisse sowie ein steigender Fleischkonsum in Schwellenländern verschärfen Knappheiten. Zudem können Ernteausfälle, Exportbeschränkungen, ein hoher Ölpreis, aber auch Börsenspekulationen den Markt heute innert kurzer Zeit aus dem Gleichgewicht bringen – das hat die Lebensmittelkrise der Jahre 2007/08 gezeigt: Die Regierungen reagierten mit Egoismus, Food Security stand auf der politischen Agenda zuoberst. Auch hier gilt: Wo’s weniger gibt, wird lauter gestritten. Und der Mächtigere gewinnt.

Aussteiger
Die Do-it-yourself-Bewegung wächst seit einiger Zeit rasant. Der Trend ist nicht bloss eine Folge der Finanzkrise, in der das Geld für bestimmte gefertigte Produkt nicht mehr reichte. Vielmehr ist sie auch Ausdruck einer Rückeroberung des eigenen Alltags. Selbermachen verspricht Kontrollgewinn, reduziert Abhängigkeiten und vermittelt das gute Gefühl von Stärke; wer produziert, statt konsumiert, fühlt sich mächtiger. Und wer selber kocht, näht, baut oder repariert, schafft sich einen kleinen persönlichen Freiraum. Statt gegen oder um die Macht in globalen Systemen zu kämpfen, versuchen immer mehr Leute, sich ihr auf diese Weise zu entziehen.

Die Psychologie der Macht
Bleibt die Frage, warum Menschen überhaupt nach Macht streben – und wie. Psychologen erklären, dass sie sich gut anfühle, Freude und Stolz auslöse, währenddem Machtlosigkeit Niedergeschlagenheit, Ehrfurcht oder gar Scham hervorrufe. Zudem beflügelt Macht: Die Welt sieht einfacher aus, andere Personen werden flüchtiger wahrgenommen. Macht erlangt, wer das nötige Können, das Wissen und Geschick besitzt; vor allem aber auch, wer den Willen zur Macht hat. Wobei Macht nicht gefährlich oder böse sein muss. Vielmehr ist sie eine Voraussetzung, um andere schützen und fördern zu können. Die Gefahr der Macht liegt denn auch in ihrem Potenzial: Der grössere Spielraum und fehlende Sanktionssysteme sind ein Nährboden für persönliche Bereicherung und Rücksichtslosigkeit. Mächtige umgeben sich oft mit Gleichgesinnten und Mitläufern, verlieren dadurch den Realitätskontakt bis sie sich total verschätzen und (mehr oder weniger) grandios scheitern.

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7. European Consumer Trend Conference
Die 7. European Consumer Trend Conference des Gottlieb Duttweiler Instituts unter dem Titel «Rückkehr der Macht – Wer beherrscht Marken, Medien, Menschen?» findet am 16. März 2011 statt. Zu den Referenten gehören der ehemalige Obama-Berater Parag Khanna, der Ex-Wikileaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg, Pirate-Bay-Mitgründer Peter Sunde oder Fernando Motolese, der mit seiner Twitter-Kampagne zur Rettung der – erfundenen – brasilianischen Vogelart Galvão für Aufsehen sorgte.

Medienkontakt:
Alain Egli
Head Communications
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
Telefon: +41 44 724 62 78