Homo hapticus: Tasten wird digital

Das Greifbare galt lange als das Bollwerk des Analogen: Nullen und Einsen konnte man sehen und hören, aber nicht spüren. Dann, 2007, kam der Touchscreen… Wie sich die Technik an den unverzichtbarsten Sinn des Menschen herantastet.
4 März, 2016 durch
Homo hapticus: Tasten wird digital
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

Dies ist ein Auszug eines Artikels aus dem «GDI Impuls».

Von Ekaterina Petrova

«Man kann nicht nicht kommunizieren», heisst Paul Watzlawicks berühmtes erstes Axiom der menschlichen Kommunikation. Sobald ein Mensch in Beziehung mit anderen Menschen steht, ist dieser Satz tatsächlich so selbstverständlich, dass er keines Beweises bedarf. Bei Menschen ohne Kontakt zu anderen sieht das anders aus.
«Man kann nicht nicht spüren», ist hingegen unabhängig von der sozialen Umgebung. Denn der Tastsinn ist jederzeit präsent. Sogar wenn wir bewegungslos liegen, spüren wir unsere Umgebung: Wir können die Wahrnehmung über die Haut nicht unterdrücken. Es sind keine Fälle bekannt, in denen einem Kind bei der Geburt der Tastsinn fehlte. Man kann geboren werden ohne Hör-, Seh-, Geruchs- oder Geschmackssinn – aber der Tastsinn ist immer da.

Statt Homo erectus, Homo sapiens oder Homo oeconomicus könnte man uns also auch Homo hapticus nennen, so unverzichtbar ist die Haptik (soviel wie berühren, kontaktieren) für unser Leben. «Man kann sich verhören, man kann sich versehen, aber man kann sich nicht vertasten oder verfühlen», sagt Olaf Hartmann, Inhaber der Agentur Touchmore für haptische Markenkommunikation. «Apple hat uns gelehrt, seine Geräte zu streicheln. Der motorische Code des Streichelns aktiviert Liebe, Zuneigung, Aktivität.» Das wiederum war lange Zeit ein echtes Problem.

Unterdrückter Tastsinn

Denn in weiten Phasen der Moderne wurde Haptik geradezu diskriminiert. Der Tastsinn als Überrest unserer tierischen Herkunft, unseres Kleinkindverhaltens und als Ausdruck unserer sexuellen Triebe. Liebe und Zuneigung sind für uns über die Haptik codiert: Was wir lieben, wollen wir anfassen. Sex kann man im Dunkeln haben, auch lautlos – aber ohne Berührung geht gar nichts. Kein Wunder, dass Lippen, Zunge und Fingerspitzen zu den am dichtesten mit Tastsinneszellen bestückten Hautpartien gehören.

Die vorherrschende Meinung, dass wir achtzig Prozent der Reize visuell wahrnehmen, könnte durchaus mit dem religiösen Hintergrund zu tun haben, wonach Berührung oftmals Sexualität und Sünde bedeutete. Entsprechend führte der Fortschrittspfad während mehrerer Jahrhunderte vom Haptischen weg. Durch den Buchdruck konnten Gedanken übertragen werden, ohne den Denkenden in Greifweite zu haben. Die Dampfmaschine und die folgende industrielle Revolution machten aus Handarbeit Maschinenwerk, die Elektrizität machte die Nacht zum Tag und damit sichtbar, Radio und Fernsehen fokussierten auf Hör- und Sehsinn, fürs Haptische blieb nur der Knopf auf der Fernbedienung.
 

Der Kopf steht auf dem Körper

Das hat der Menschheit nicht unbedingt gutgetan. Viele Studien belegen, dass der Tastsinn in einer sehr engen Verbindung zum Lernen und Entwickeln steht. «Der Mensch ist insgesamt ein Lernorgan, das sich nicht auf einzelne Sinne reduzieren lässt», sagt Martin Grunwald, Leiter des Haptik- und EEG-Forschungslabors der Universität Leipzig. «Wir sind haptische Wesen, die ein Bedürfnis nach Interaktion mit der Umwelt haben.» Für Gesten-Forscherin Susan Goldin-Meadow von der Universität Chicago sind sogar «häufig die Hände schon einen Schritt voraus und offenbaren ein Wissen, das dem Bewusstsein noch nicht zugänglich ist».

Mangelnde Stimulierung des Tastsinns könne eventuell sogar Gehirnaktivitäten verändern und diese negativ beeinflussen, sagt Haptik-Forscher Grunwald. Er hat mit seinem Team am Beispiel einer Testperson herausgefunden, dass zu wenig Körperkontakt im kindlichen Alter die eigene Körperwahrnehmung nachhaltig verändert, was sich nur mit grossem Aufwand teilweise wiederherstellen lässt. «EEGs bei Anorexia-Patientinnen haben gezeigt, dass die Aktivität im rechten Parietallappen deutlich reduziert ist. Dieser Bereich des Gehirns ist für die Integration körperlicher Reize zuständig und spielt wohl eine zentrale Rolle bei Körperschema-Störungen. Ich vermute, dass man nur dann ein richtiges Körperschema entwickeln kann, wenn man als Kind auch viel Körperkontakt hatte. In unserer Gesellschaft aber gibt es heutzutage sehr viel körperliche Distanz.»

«Durch Berührungen entwickeln Menschen eine ‹haptische› Denkweise», sagt Joshua Ackerman von der Sloan School of Management des MIT. Eine «gewichtige Meinung», ein «harter Verhandlungspartner», eine «glatt gelaufene Angelegenheit» – in solchen Redewendungen kommt zum Ausdruck, was die Wissenschaft immer deutlicher erkennt: Tastempfindungen und kognitive Leistungen sind aufs Engste miteinander verbunden.

Deswegen gibt es für Kleinkinder Bücher mit rauen, flauschigen, glänzenden Oberflächen. Und deshalb lässt Apple uns seine Geräte streicheln: Den Durchbruch des mobilen Internets, den Sieg der digitalen Revolution verdanken wir einer Renaissance der Haptik.

Tastsinn digital

Wie jede erfolgreiche Idee zieht auch diese immer weitere Kreise. Eine «Rückkehr der Knöpfchen», konstatierte etwa die «Neue Zürcher Zeitung», weil haptisches Feedback den Bedienkomfort vergrössere. Der Tactus-Touchscreen etwa ist so flach wie jeder andere Bildschirm, kann jedoch dank einer speziellen taktilen Schicht Tastaturknöpfe wie eine Wölbung erscheinen lassen.

Ein anderer Ansatz, unser haptisches Vorgehen zu digitalisieren, sind Datenhandschuhe. Ein an der Universität Bielefeld entwickelter Prototyp stimuliert mittels elektrischer Impulse und Vibrationen die Nervenenden der Finger. Daraus kann ein Hilfsmittel für online durchgeführte Operationen werden, ein Steuerungsinstrument für Roboter im Weltall oder ein verbessertes Online-Shopping-Erlebnis, weil man das Gefühl hat, die virtuellen Waren real in der Hand zu halten.

Wichtiger als das Shopping ist für die technische Weiterentwicklung des Erlebens digitaler Welten mit allen analogen Sinnen jedoch das Gaming. Erste Gehversuche gab es mit Videogame-Controllern für Xbox oder Playstation, die dank der Vibration beispielsweise das Gefühl einer holprigen Strasse wiedergeben. Die nächste Erlebnisstufe wird der Virtualizer bieten. Diese Entwicklung des österreichischen Teams Cyberith erinnert im Design ein wenig an den Hochsitz eines Jägers. Sie simuliert Sprünge, Gehen, Laufen, Hocken und Sitzen und erzeugt in den dafür geeigneten Videospielen einen hohen Grad an Virtual Reality. Bei der Kickstarter-Kampagne, die der Produktionsphase vorausging, verkaufte Cyberith im Sommer 2014 bereits 393 Exemplare und nahm insgesamt mehr als 360 000 Dollar ein. Ein Anfang. Und die Werbebranche forscht bereits daran, dem Konsumenten das Gefühl eines sich annähernden Autos oder eines pulsierenden Herzens zu vermitteln.

Die wachsende Bedeutung des Haptischen in der digitalen Welt trägt vermutlich dazu bei, die Technologie und die von ihr geprägte Umwelt wieder menschenfreundlicher, ja menschlicher zu machen. Mehr Sinne gleich mehr Wirklichkeit, meint Haptik-Werber Hartmann. «Der Mensch ist ein multisensorisches Wesen. Das Sehen ist wichtig. Das Hören auch. Aber die Welt scheint erst zu uns zu kommen, wenn wir sie berühren – dann ist sie plötzlich wahr!»

Wie sehr uns das Multisensorische guttut, zeigt eine der ältesten und weitverbreitetsten Aktivitäten dieser Art: das Tanzen. Es erfordert eine Koordination von Bewegung mit Gehörtem, in ständiger Berührung mit dem Tanzpartner, und dabei ebenso ständig die Umgebung im Auge behaltend, um nicht anderen Tanzenden auf die Füsse zu treten. Wissenschaftler am Neural Plasticity Lab der Ruhr-Universität Bochum konnten durchs Tanzen eine Steigerung der kognitiven und taktilen Fähigkeiten um bis zu 25 Prozent feststellen – bei Personen zwischen 60 und 94 Jahren. Unter anderem wurden dabei Aspekte der Feinmotorik, der Haptik und der mentalen Rotation gemessen. Nach einer Studie der Universität Stanford ist Tanzen sogar diejenige körperliche Aktivität, die das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, am stärksten reduziert – nämlich um 76 Prozent. Ob etwas Ähnliches auch für multisensorische Digitalitäten gilt, wissen wir noch nicht – allein schon deshalb, weil es sie noch gar nicht gibt.

Haptische Aussichten

Aus heutiger Sicht bergen gerade ausgeklügelte, alle Sinne ansprechende Technologien das Risiko, dass wir vereinsamen und in unserem Menschsein verkümmern. Digitale Geräte und Technologien sind unheimlich schnell und effizient im Verbinden, jedoch geben sie uns Menschen oftmals nur den Anschein der Verbundenheit. Aber schon der nächste technische Entwicklungsschub könnte Menschen auch tatsächlich wieder zueinander bringen. Anders als bisher vielleicht, aber deswegen nicht unbedingt schlechter.

Bei der verbalen Kommunikation haben wir bereits eine Menge Erfahrungen gesammelt. Wir wissen relativ gut, wann eine digitale Unterhaltung ein analoges persönliches Zusammentreffen zweier Menschen ersetzen kann, wann es sie bereichert, wann sich beide gegenseitig befruchten und wann durch das Digitale der Einzelne verarmt. Die meisten von uns dürften es wohl geschafft haben, beide kommunikativen Welten in ihren Alltag zu integrieren. Der «Smombie», der mit der Welt nur noch über den Bildschirm seines Smartphones kommuniziert, ist eher Karikatur als Realität.

Bezüglich der Folgen, die eine Digitalisierung der Haptik für uns hat, stehen wir noch ganz am Anfang. Gerade weil der Tastsinn mit viel älteren Hirnregionen verbunden ist als das Sprachzentrum, gerade weil es sich um viel tiefer gehende Empfindungen handelt als bei kommunikativer Informationsverarbeitung, können sich völlig andere Wirkungen oder Nebenwirkungen ergeben, wenn aus der physischen Verbundenheit eine digital-haptische Verbundenheit wird.

Nehmen wir eine bislang rein analoge Tätigkeit wie das Jonglieren. Es übt Fein- und Grobmotorik, integriert mentale und physische Aktivität, rhythmisiert den Körper, verbessert den Atemfluss, baut Stress ab, und man kann sogar seine Umwelt miteinbeziehen, wodurch eine echte Kommunikation und Verbundenheit entsteht. Aber in der analogen Form ist es auf einen Ort und (in der Regel) eine Person begrenzt: Wer jongliert, jongliert dort, wo er ist, mit den Gegenständen, die er gerade vorfindet, ob Bälle oder Briefbeschwerer. Ein digitales Jonglieren hingegen kann haptisch genau dem analogen Jonglieren nachempfunden werden – sich aber von dessen Grenzen lösen: Theoretisch können Millionen Menschen in aller Welt gleichzeitig und miteinander jonglieren und sich von Zürich nach Schanghai die Bälle zuwerfen. Wir könnten uns in einer Art und Weise verbinden, für die es in der analogen Welt schlicht keine Entsprechung gibt. Und uns gut dabei fühlen – emotional wie haptisch.

Das postdigitale Zeitalter macht Daten sinnlich – und schafft völlig neue Märkte.

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