70. Internationale Handelstagung: Die wichtigsten Take-Aways

Was bedeutet Covid-19 für Städte und den Handel? Wie baut man ein erfolgreiches Urban Farming-Unternehmen auf? Und wie behaupten sich Warenhäuser? Antworten lieferten Innovatoren und Retail-Grössen an der GDI-Handelstagung vom 10. bis 11. September 2020. Eine Zusammenfassung.
15 September, 2020 durch
70. Internationale Handelstagung: Die wichtigsten Take-Aways
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

David Bosshart, GDI Gottlieb Duttweiler Institute: «Small is beautiful, speed is king, and hyperlocal is hero»
Wir leben in einer Welt, wo das Schicksal wieder eine grössere Rolle spielt. Wir können noch nicht sagen, was die Folgen von Covid-19 sind, aber die alte Realität wird nicht wiederkommen. Sie war grottenverkehrt. Experten dominieren den Meinungsmarkt immer mehr, wir sind von ihnen abhängig, aber sie können nicht vernetzen. Wir sind Stimmungsmenschen geworden, wir leben immer mehr von der gefühlten Realität. Die Pandemie ist ein «Schwarzer Elefant»: wir sehen ihn, nehmen ihn aber nicht wahr. Eigentlich wussten wir, was passieren wird. Wir müssen erkennen: wir sind nicht die, die bestimmen. Es braucht Klarheit in der Führung. Gesundheit wird in jeder Handelskategorie eine Rolle spielen. Die Menschen haben jetzt mehr Defizit-Bedürfnisse (Sicherheit, Einkommen, Versorgung), als Wachstums-Bedürfnisse. Die Konsumenten werden vorsichtiger. Wir müssen die Kunden emotional aufpäppeln. Es wird mehr Konsolidierung geben: im Retail, der Tech-Branche, Social Media, Luxus. Welche Flächen brauchen wir noch im Handel? Small is beautiful, speed is king, and hyperlocal is hero. Gute Firmen sind solche, die Vertrauen generieren. Gute Oberbürgermeister sind heute fast wichtiger, als Präsidenten oder Bundeskanzler. Die Deglobalisierung wird uns in den nächsten Jahren begleiten. Städte mit einer guten Lebensqualität werden relativ klein, sicher, reich, kühl (nördlich) und alt (Durchschnittsalter 35) sein.
Kristian Villadsen, Gehl Architects: «Wir brauchen Städte, in denen es leicht ist, Gutes zu tun»
Der Einzelhandel ist nur eine von vielen Komponenten einer Stadt. Wir alle wollen das Gleiche: lebenswerte, nachhaltige Städte. Wenn Sie in Monofunktionen denken, d.h. Einzelhandel, Verkehr, Grünflächen, dann werden Sie die Dinge nie ändern. Die Menschen richten ihr Verhalten danach aus, was die physische Umwelt ihnen bietet. Sie sind super faul. Wir brauchen Städte, in denen es leicht ist, Gutes zu tun. Städte sind jetzt die treibende Kraft, um die Welt zu verändern. Es ist der alltägliche Bezugspunkt, der die Qualität der Städte bestimmt, nicht die Hochhäuser. Die Gestaltung des Erdgeschosses ist für den Erfolg Ihres Einzelhandelsgeschäfts von grösster Bedeutung. Wir können es uns nicht leisten, Städte zu haben, die aufgrund von Bauarbeiten ständig ausser Betrieb sind. Es geht darum, in den Städten Einladungen zum Bleiben zu schaffen. Wir müssen anfangen, über Strassen als öffentliche Räume nachzudenken. Der öffentliche Raum muss Lebensqualität bieten, nicht nur die Möglichkeit zum Spazieren und Konsumieren.

Thomas Sevcik, Arthesia: «Das magische Dreieck des neuen Handels verbindet Kultur, Gesundheit und Bildung»
Zwei wichtige Entwicklungen laufen parallel: die Neugestaltung der Städte und eine neue Definition des Einzelhandels. Der Schwerpunkt verlagert sich von den zentralen Städten weg. Wir sehen die Verstädterung des «Donuts» (Zwischenstadt). Wie können wir diese Aussenbereiche der Städte lebenswert machen? Corona könnte den «Donut» noch mehr stärken. Sonderzonen sind auf dem Vormarsch: Privatzonen, Sperrzonen. Anstatt Gesellschaften zu reformieren, was wir nicht schaffen werden, beginnen wir mit dem Bau von Sonderzonen. Funktionen, die in Zukunft möglicherweise wichtiger werden: Lager, industrielle städtische Landwirtschaft, High-Touch-/High-End-Fertigung, Micro-Living, Vanity-Living, Ausstellungsräume, Markenerlebnisse, kommerzielle Kunstzentren, lokale Vertriebsräume. Funktionen, die in Zukunft möglicherweise weniger wichtig werden: traditionelle Büroräume, Parkplätze, High-Street-Einzelhandel, Hotels des mittleren Marktsegments. Das magische Dreieck des neuen Handels verbindet Kultur, Gesundheit und Bildung und bewegt sich weg vom Kauf von Dingen. Wir brauchen neue Mietmodelle.
Markus Laenzlinger, Migrolino: «Migrolino profitiert vom Homeoffice-Tend. Die Leute haben mit uns ihr Notkaufsortiment direkt nebenan»
Convenience ist ein Geschäft, das sehr rasch läuft. Chancen sieht Migrolino bei Foodvenience: Ready to eat, Bio, Allergiker-Food. Migrolino soll in der Schweiz von überall innerhalb von fünf bis sieben Minuten mit dem Auto erreichbar sein. Der Treibstoffverkauf nahm während des Lockdowns um 38 Prozent ab, der Alkoholverkauf um 34 Prozent zu. Auch der Verkauf von haltbaren Produkten nahm zu. Während des Lockdowns half, dass Migrolino ein Lebensmittelversorger ist, Kunden profitierten vom «Notkaufsortiment nebenan» und wählten gezielt kleine Läden, in denen Sie nicht lange Zeit verbringen mussten. Migrolino testet den 24/7-Shop. Die Logistik ist aktuell noch die Herausforderung.
Emmanuelle Hoss, Semaest: «Wenn es keine Läden mehr gibt, gibt es eigentlich auch keine Stadt mehr»
In Frankreich berücksichtigt man die Externalitäten nicht, weder die positiven, noch die negativen. Wert und Preis kann man nicht mehr unter einen Hut bringen. Eine Buchhandlung ist mehr als eine Buchhandlung, ist Kultur, ist Reisen, ist die Welt Kennenlernen. Gleichzeitig ist es ein aussterbender Ladentypus. Wenn es keine Läden mehr gibt, gibt es eigentlich auch keine Stadt mehr. Handwerkliche Arbeit gewinnt wieder an Bedeutung und schafft territoriale Identität. Semaest möchte die Vielfalt zurückbringen. Semaest leistet einen Beitrag zur 15-Minuten-Stadt. Ist das nachhaltig? Das ist immer eine Frage der Prioritäten.
Paul Myers, Farm Urban: «Es gibt ein riesiges Potenzial, ein Ernährungssystem neu zu erfinden, das nicht linear ist»
Farm Urban baut Lebensmittel an, die gut für die Menschen sind, und zwar auf eine Weise, die gut für den Planeten ist. Junk-Food und unsere Gewohnheiten stehen uns für eine gute Gesundheit im Weg. Wir brauchen einen Bottom-up-Ansatz für die Gesundheitsversorgung. Es gibt ein riesiges Potenzial, ein Ernährungssystem neu zu entwerfen, das nicht linear ist, sondern sich an der Natur orientiert. Farm Urban arbeitet an Verkaufsautomaten mit lebenden Pflanzen. Das Konzept heisst «Beyond Organic»: Es werden keine Pestizide verwendet, aber es kann nicht als «Bio» deklariert werden, weil keine Erde verwendet wird. Es entsteht eine Bewegung, bei der die ganze Stadt mitmachen kann.

Uwe D’Agnone, Creapaper: «Es ist ok, wenn wir nur in Richtung Funktionalität nachdenken»
Gras kann rein mechanisch aufbereitet werden, nicht chemisch wie Holz. Alle Papierarten können aus Gras gewonnen werden. Papier aus Gras hat ein enormes Einsparpotenzial: 90 Prozent weniger Energie, 75 Prozent weniger CO-Emissionen und 99.9 Prozent weniger Wasser fallen an im Vergleich zur Herstellung von normalem Zellstoff. Es ist ok, wenn Creapaper nur in Richtung Funktionialität nachdenkt, das Papier muss nicht reinweiss sein. Alle Papierfabriken können Gras verarbeiten ohne neue Investitionen. Creapaper ist vor zwei Jahren in Massenproduktion gegangen. Die Produktion soll in zwei Jahren preisneutral zum Papier aus Holz sein. Gras ist ein so schnell wachsender Rohstoff, dass die Papierherstellung niemals in einen Wettbewerb zur Tiernahrung kommen wird.
Guy Bloch, Bringg: «Wir sind nicht mehr Markenkunden. Wir sind jetzt Marktplatzkunden»
Covid, Marktplätze und Omnichannel haben das Verbraucherverhalten verändert und den digitalen Konsumenten geschaffen. Wir sind nicht mehr Marken-Kunden. Wir sind jetzt Marktplatz-Kunden. Die Spielregeln haben sich geändert, die Bequemlichkeit ist der wichtigste Grund, warum sich Käufer für den Online-Handel entscheiden, und die Kosten stehen bei der Auswahl der Lieferoptionen an erster Stelle. Die Abwicklung beeinflusst die Kundenentscheidungen. Marktplätze wie Amazon beeinflussen Marken und Unternehmen. Marken müssen skalieren und optimieren, mehr Liefer- und Abwicklungsoptionen anbieten, mehr Sichtbarkeit und Kommunikation in Echtzeit ausführen und optimierte Servicemodelle anbieten. Das erfolgreiche Marktplatz-Modell läuft auf Technologie und Logistik hinaus.
André Maeder, KaDeWe Group: «Wir verkaufen nichts, was Sie brauchen, aber wir haben Träume»
Es gibt keine Marke, die die KaDeWe Group gern hätten, die sie nicht hat. Mit den 30 Top-Marken generiert die KaDeWe Group 40 Prozent des Umsatzes. Während der Pandemie hilft es, dass die Gruppe zwar 20 Prozent des Umsatzes mit Touristen von ausserhalb Europas generiert, aber 65 Prozent des Umsatzes mit heimischen Kunden in Deutschland. Service ist das «Pièce de résistance». Harrods in London hat 200 Private-Shopper. Die waren Livelines nach aussen während des Lockdowns. 2000 Marken werden in den Häusern angeboten, ohne Food. Wichtig, dass der Department-Shop nicht zur Shopping-Mall wird. Warum soll man in Zukunft noch in einen Laden gehen? – Wegen der Exklusivität. Die definiert sich auch über die Verfügbarkeit von Waren, nicht nur über den Preis. Die Kaufhäuser der KaDeWe Group verkaufen nichts, was Sie brauchen, aber sie haben Träume.
Stephanie Kelton, Stony Brook University: «Defizite, nicht Schulden, sind die Lösung des Problems»
Die Volkswirtschaften werden vermutlich wachsen, und das Wachstum aus der Zeit vor Covid-19 wird übertroffen werden. Niemand weiss jedoch genau, was uns in den kommenden Jahren bevorsteht. Wir sind sehr abhängig von politischen Reaktionen, die sich in wirtschaftlichen Ergebnissen niederschlagen. Die Geldpolitik allein kann uns nicht dorthin bringen, wohin wir gehen müssen. Die neue Realität ist eine fiskalische Dominanz, in der die Zentralbanken nur eine unterstützende Rolle spielen. Defizite, nicht Schulden, sind die Lösung des Problems. Steuern und Ausgaben sollten entkoppelt werden. Die massgebliche Beschränkung ist die Inflation, nicht die Solvenz.
Bruno Maçães, Hudson Institute: «Bei Belt and Road geht es nicht um Infrastruktur. Es geht um wirtschaftlichen Einfluss, wirtschaftliche Macht»
Bei Belt and Road geht es nicht um Infrastruktur. Es geht um wirtschaftlichen Einfluss, um wirtschaftliche Macht. Die Infrastruktur ist nur ein Pfeiler. Belt and Road hat die Landschaft für Chinas E-Commerce verändert und erleichtert, nicht nur physisch, sondern auch in Bezug auf Zoll- und Rechtsfragen. Belt and Road hat es Alibaba ermöglicht, zu einer dominierenden Grösse in Russland zu werden. Wenn China ein technologisch fortschrittliches Land werden will, muss es Hightech-Kapital und Arbeitskräfte in bestimmte Gebiete verlagern. Sie brauchen Wertschöpfungsketten und wirtschaftliche Spezialisierung. Der Kern der globalen Wirtschaftsmacht ist die Kontrolle globaler technischer Standards. Wenn wir einige der chinesischen Technologien ausschliessen, werden wir das zu spüren bekommen. China konvergiert nicht mit dem Westen. Es gibt sehr begrenztes Investitionspotenzial entlang des Belt and Road für Europäer: Mehr als 90 Prozent der Auftragnehmer sind chinesische oder lokale Unternehmen.
Torsten Toeller, Fressnapf Holding: «Unser Erfolgsrezept: Wir sind nicht satt, nicht lazy, aber kundenzentriert»
Corona hat bewiesen, dass wir krisensicher sind. In der Krise wird die emotionale Bindung zu den Haustieren noch intensiver, davon profitieren wir. Das Erfolgsrezept von Fressnapf: Wir sind nicht satt, nicht lazy, aber kundenzentriert. Geld ist wichtig, aber meist scheitert es an Kompetenzen. Stellen Sie Leute ein, die besser sind als Sie. Das ist das Beste, das Sie tun können. Fressnapf setzt auf Omnichannel: Kleine City-Flächen können so über ihr «verlängertes Online-Regal» das ganze Sortiment anbieten. Das Unternehmen wächst online jährlich um 35 Prozent. Omnichannel-Kunden sind wesentlich werthaltiger für Fressnapf, als reine Online- oder stationäre Kunden. Sie kaufen dreimal soviel ein. Eine starke Unternehmenskultur und Vertrauen der Mitarbeiter sind für den Erfolg wichtig.
David Sandström, Klarna : «Ihre Konkurrenz ist wahrscheinlich nicht die, an die Sie denken»
Klarna ist in einer der am meisten misstrauten Branchen tätig. Die Finanzindustrie ist meist blau, männlich, langweilig und hochgradig administriert. Die Ansprüche der Verbraucher haben sich geändert. Keiner von Klarnas Konkurrenten hat sich angepasst. Die Verbraucher wollen Erlebnis, Hyperpersonalisierung, sofortige Belohnungen, Gamifizierung. Der Trend zu Super-Apps kommt langsam nach Europa. Junge Leute vertrauen den Medien und der Werbung nicht mehr, aber sie vertrauen ihren Freunden. Marken, die nicht verstehen, wie man sich in Communities engagiert, haben keine grosse Zukunft. Ihre Konkurrenz ist wahrscheinlich nicht die, die Sie denken. Für Klarna ist es Netflix.
Simona Scarpaleggia, Edge Strategy: «Menschen zu befähigen und an sie zu glauben, ist der Schlüssel»
Die Arbeitswelt krempelt die Unternehmen um. In der Arbeitswelt vollzieht sich durch Digitalisierung, Organisationsmodelle und Vielfalt eine 3D-Transformation. Führungspersönlichkeiten spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Auswirkungen der Digitalisierung umzusetzen. Die Organisationspyramide ist veraltet. Die Gleichstellung der Geschlechter kann nicht von einer Organisation allein geführt werden. Führungspersönlichkeiten sollten mit anderen zusammenarbeiten. Menschen wollen für gute Unternehmen arbeiten. Menschen zu befähigen und an sie zu glauben, ist der Schlüssel.
Matt Heiman, Cocoon: «Wir stellen traditionelle Definitionen von Luxus in Frage»
Wir wissen, dass Mietmodelle im Kommen sind. Die Idee hinter Cocoon ist ein zirkuläres Geschäftsmodell, das mit Luxusmarken zusammenarbeitet und nicht gegen sie gerichtet ist. Das Hauptkundensegment ist zwischen Ende 20 und Anfang 40 Jahre alt, self-made und arbeitet im Zentrum Londons. Cocoons Taschen ergänzen meistens ein bestehendes Sortiment der Kundinnen. Der Echtheitsnachweis der Taschen ist immer ein Thema im gesamten Prozess, auch bei der Rückgabe. Die Schweiz wäre demographisch gesehen ein sehr guter Markt.
Dana Thomas, Journalistin: «Wir kaufen zu viel, wir konsumieren zu viel und wir schmeissen zu viel weg»
Die Modeindustrie hat einen Umsatz von 2,5 Billionen USD pro Jahr. Bis 2030 wird erwartet, dass diese Zahl um 81 Prozent wächst. Aber dieses Wachstumsmodell ist nicht nachhaltig. Das grösste Problem ist die Überproduktion. Wir kaufen zu viel ein, wir konsumieren zu viel und wir schmeissen zu viel weg. Reduktion ist der Schlüssel, und einige Marken machen sich dies zu eigen. Wir sollten das Konzept des Erfolgs überdenken: Was ist Erfolg? Der reichste Mensch der Welt zu sein? Am meisten zu verkaufen? Das BIP zu erhöhen? Oder ist Erfolg etwas Substanzielleres? Zum Beispiel das Leben anderer zu verlängern oder die Umwelt nicht zu schädigen. Wir sollten mehr für Kleidung bezahlen, da wir nicht jeden in der Lieferkette bezahlen. Und wir können mehr bezahlen, wir sind nur darauf konditioniert worden, es nicht zu tun. Es ist unerlässlich, die Unternehmen zu ethischem Verhalten aufzurufen.




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